Kastani 1

Deutsches Kulturinstitut / Tartu Saksa Kultuuri Instituut

Blätter rascheln, Vögel zetern, Autos rauschen vorbei. Ich sitze auf der Bank vorm Hauseingang, die Sonne knallt, dabei ist es noch nicht mal Zehn. Ein Mann rollt auf Inline Skates vorbei, eine Frau mit Kinderwagen, der Holzzaun, der mich von ihnen trennt: mehr Grau als Rosa.

Samstagmorgen, mein zweiter Kaffee.

Deutsches Kulturinstitut Tartu Saksa Kultuuri Instituut steht in einem Bogen über der Eingangstür. Ich drücke die Tür auf. Ein Quietschen schallt durchs Haus.

Ich habe schon in einem Fachwerkhaus gewohnt, miniklein, der Boden schief, in der Platte, im Hochhaus, in einem unsanierten und einem schicken Berliner Altbau, eine kurze Zeit auch auf einem Schiff. Aber noch nie in einer Villa.

Und mit Villa meine ich so richtig alt-ehrwürdig: mit Flügeltüren, ewig hohen Decken, Turmzimmer und einer großen Halle. 1902 oder 1904, die Angaben sind widersprüchlich, wurde das Haus eröffnet, die deutsch-baltische Studentenverbindung Neobaltia hatte es in Auftrag gegeben.

Ich stehe in der Eingangshalle. Verzierte Holzbalken, Fliesen, ein alter Ofen – und relativ kühl. Seit drei Wochen ist es heiß in der Stadt, kratzen die Temperaturen manchmal an der 30 Grad-Marke. Ich hatte mir Estland kälter vorgestellt.

Pünktlich zum 25-jährigem Jubiläum der Neobaltia jedenfalls war das Haus fertig. Unten lagen Halle, Ess- und Kaminzimmer, im zweiten Stock Ratszimmer und Bibliothek. Vom Turm aus sah man damals den Domberg, die Domruinen, heute versperrt ein Ahornbaum die Sicht.

1939 zogen die Studenten aus, wurde die Villa erst Pionierhaus, dann Fahrschule, auch eine sowjetische, paramilitärische Freiwilligenvereinigung zog ein. Ums Haus gekümmert hat sich niemand. Bevor das Deutsche Kulturinstitut 1992 in die Räume zog, wurde sogar der Abriss diskutiert.

Dabei gilt die Villa als eines der frühesten Beispiele des Jugendstils in Tartu. Kulturdenkmal.

Wo früher Studenten feierten und später die Regeln des Straßenverkehrs gepaukt wurden, wuselt seit ein paar Jahren Vaike Hint durch die Räume. Sie ist die Geschäftsführerin des DKI. Tags zuvor winkte sie mich in ihr Büro: „Komm, schau!“ Auf dem Bildschirm war ein Onlineportal geöffnet, Bürger:innen können dort Ideen für die Stadt einreichen. Die beiden Projekte mit den meisten Stimmen fördert die Stadt. Vaike Hint macht auch mit. „Der Zaun ist so kaputt“, sagt sie und schüttelt den Kopf.

Im vergangenen Jahr gewann ihr Vorschlag nicht. 339 Stimmen bekam das DKI von den Tartuer:innen, rund 1.000 die Gewinnerprojekte. „Ich will es diesmal besser machen“, sagt Vaike Hint. Dann zeigt sie mir noch etwas anderes, vor ihrem Büro, am Boden. Die Fliesen neigen sich zur Wand, an manchen Stellen sind sie gesprungen. Kaum sichtbar und doch grundlegend. „Das Haus senkt sich“, sagt sie, in ihrer Stimmt liegt Sorge.

Neben ihrem Büro ist noch eine Flügeltür, Saal steht dran. Ich öffne, das Parkett knarzt. Rundbogenfenster, Ornamente an den Wänden, in den Ecken zwei raumhohe Kamine. 120 Jahre hat die Villa auf dem Buckel. Wäre sie ein Mensch, sie würde wohl am Stock gehen, alt, aber aufrecht.

Entworfen hat sie Rudolf von Engelhardt. Er hatte in Darmstadt und St. Petersburg studiert, sich von den Villen der Jahrhundertwende inspirieren lassen. Ornamente und geschwungene Formen, kombiniert mit Fachwerk – eine Mischung aus Jugend- und Heimatstil. Von Engelhardts Bruder Walter entwarf den Garten, heute ein sandiger Parkplatz. Auch das soll, geht es nach Vaike Hint, anders werden.

In den 2000ern muss es im Haus ein ständiges Kommen und Gehen gegeben haben. Damals boomten Deutsch-Kurse, bis zu 60 erwachsene Schüler:innen paukten hier in mehreren Kursen deutsche Grammatik und Vokabeln. Mit Corona wurde der letzte Kurs eingestellt, Deutsch war aus der Mode gekommen. Im DKI finden nun vor allem Kulturveranstaltungen statt: estnische Lieder, deutsche Lesungen, Ballett.

Ein altes Klassenzimmer wurde zur Wohnung umgebaut, hier wohne ich. In der Kastani Nummer 1.

3 Gedanken zu „Kastani 1“

  1. Liebe Kathrin Groth,
    Eine sehr schöne Villa , ein sehr schöner Platz , finde ich, dort zu wohnen und über Stadt, Land und Leute zu berichten.
    Ich wünsche Ihnen jedenfalls viele spannende Begegnungen und viele solcher Artikel.
    Ich bin gespannt auf den nächsten..!

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