Vor ein paar Tagen hatte ich die Gelegenheit mit Bürgermeister Urmas Klaas zu sprechen. Er empfing mich im Rathaus, in seinem Büro im ersten Stock. An der Wand hängt ein Luftbild der Stadt, am Regal prangen die Sterne der Europafahne, hinterm Schreibtisch: Ein graublauer Sitzsack mit Klaas‘ Vornamen drauf. Normalerweise kann Tartus Bürgermeister von hier aus die Menschen über den Rathausplatz spazieren sehen, gerade ist der Blick von einer riesigen Bühne versperrt. Kulturhauptstadtfeierlichkeiten.
Herr Klaas, Deutschland und Estland haben eine lange gemeinsame Geschichte. Das Rathaus, in dem wir sitzen, wurde von einem Rostocker Architekten entworfen, bis 1917 waren viele Bürgermeister Deutschbalten. Wir führen das Interview auf Deutsch, was ist Ihre persönliche Verbindung zu Deutschland?
Ich bin Historiker von Beruf, habe Geschichte an der Universität Tartu studiert und dort auch als Lehrkraft gearbeitet. Eigentlich müssen alle Historiker in Estland Deutsch verstehen. Im Jahr 1224 hat Bischof Hermann I. die Entscheidung getroffen, dass die Domkirche, das Zentrum des Bistums, in Tartu, in Dorpat, sein soll [Kreuzritter des Deutschen Orden hatten das Gebiet des heutigen Estlands zuvor erobert]. Seitdem ist Tartu mit dem deutschen Kulturraum eng verbunden. Deutsch war bis 1918 immer auch amtliche Sprache. Und da die Ritterschaften, die livländische Ritterschaft, die estländische Ritterschaft und die Ritterschaft von Ösel, eine führende politische und administrative Rolle in der Neuzeit gespielt haben, sind auch alle wichtigen Quellen auf Deutsch. Einerseits war es also praktische Entscheidung: Wenn ich als Historiker schon Deutsch lesen muss, dann kann ich es auch sprechen. Andererseits eine emotionale, deutsche Geschichte, Kultur und Natur haben mich immer schon fasziniert.
Als Sie 1989 mit dem Studium anfingen, war Estland noch Teil der Sowjetunion, zwei Jahre später stand Ihnen die Welt offen.
Der Fall des Eisernen Vorhangs war so wichtig für Estland. Als die Berliner Mauer fiel, hat unsere Studentengruppe – die, die Deutsch gelernt hat – ein Glückwunschtelegramm an Helmut Kohl gesendet. Als Student war ich vor 30 Jahren dabei, als Lüneburg unsere Partnerstadt wurde, als die Urkunde im Fürstensaal des Rathauses unterzeichnet wurde. Können Sie sich vorstellen, was das für einen Studenten heißt? Nach der Befreiung das erste Mal im Westen, das prägt.
Was verbindet die beiden Länder heute?
Deutschland und Estland sind Partner in Europa, Partner in der Europäischen Union, Partner in der NATO. Wir haben viele gemeinsame Werte, sogar unsere Küchen sind eng verbunden – bei uns gibt es auch Sauerkraut, Bratkartoffeln und Schnitzel. [lacht]
Putin droht „Baltics are next“, die Klimakrise galoppiert, während Tartu Europäische Kulturhauptstadt ist – hat man da als Bürgermeister nicht andere Sorgen?
Das Motto der Kulturhauptstadt ist „Arts of Survival“, Überlebenskünste. Die Frage war: Welche Fähigkeiten brauchen wir in Europa, als Menschheit, um mit all den Herausforderungen fertigzuwerden? Mit der Klimafrage natürlich, aber auch mit sozialen Fragen: Die Kommunikation zwischen den Generationen, dass die Menschen sich nicht einsam fühlen, dass unsere jungen Leute nicht nur digitale Kompetenzen haben, sondern auch menschliche. Wenn man lange vor dem Computer sitzt, verliert man das Gefühl füreinander. Jetzt, wo wir Krieg haben in Europa, sind diese Fragen wichtiger als je zuvor.
Als Tartu den Zuschlag bekam Kulturhauptstadt zu werden, rechnete man noch mit russischen Besuchern. Nun sind die Grenzen dicht. Wo spüren Sie die Folgen des Krieges in der Ukraine am deutlichsten?
Der Krieg ist unkonventionell, ein Hybridkrieg: Die Angriffe gegen Computersysteme, gegen den Flughafen. Einen Monat lang konnten keine Flugzeuge zwischen Tartu und Helsinki fliegen. Das Ziel Russlands war, das normale Leben zu stören. Aber unsere Antwort ist: Wir kommen zurecht.
Wir haben 3.000 Kriegsflüchtlinge, davon fast 500 Kinder in den Schulen und 200 Kinder in den Kindergärten, allein in Tartu. Rechtspopulisten haben versucht das auszunutzen, behauptet, die Kriminalität würde hochgehen. Das stimmt nicht! Wir versuchen alles, dass sich die Menschen zuhause fühlen.
Liegen Sie manchmal nachts wach?
Ich habe keine irrationale Angst. Ich kenne unsere Geschichte, ich weiß, was für einen Nachbarn wir haben, dass er aggressiv ist, unberechenbar. Das ist in der Geschichte immer so gewesen. Es ist gut, dass Europa jetzt verstanden hat, wovor die Esten immer gewarnt haben.
Ukraine-Fähnchen an den Stadtbussen, gelb-blaue Fahnen an und in vielen Häusern, die Solidarität ist enorm. Kommt das auch aus der Erfahrung von 50 Jahren sowjetischer Besatzung?
Was Russland in der Ukraine macht, hat es in der Geschichte mehrfach in Estland gemacht. 16. Jahrhundert, Livländischer Krieg: Tartu erobert, Stadtbürger getötet oder nach Sibirien deportiert. Nordischer Krieg, 1700 bis 1721, wieder Esten nach Sibirien verschleppt oder getötet. Vor kurzem hat mich eine Journalistin vom ORF hat gefragt: Gibt es hier nicht auch sowjetische Nostalgie? Ich habe gesagt: Massendeportationen 1941, Massendeportationen 1949, zehntausende Menschen, die geflohen sind, tausende Menschen, die getötet wurden – wo ist da Platz für Sowjet-Nostalgie? Deshalb sind wir solidarisch mit der Ukraine. Wenn Putin dort nicht gestoppt wird, will er Bier in Dresden trinken.
Welche Rolle kann Kultur jetzt spielen, wenn alle nach Osten schauen?
Unser ehemaliger Staatspräsident Lennart Meri hat einmal gesagt: Europa ist kein Karneval, Europa ist kein Bierfestival. Europa, das sind unsere gemeinsamen Werte. Und diese Werte, diese Kultur gemeinsamer Werte verbindet uns, sie macht uns stark. Kultur ist wie Klebstoff.
Ein Drittel weniger ausländische Studierende, stornierte Reisen und vorsichtige Touristen. Und dann wurde im Mai, mutmaßlich von Russland aus, der Flugverkehr gestört, einen Monat lang flog Finnair Tartu nicht an.
Wenn man die Zahlen von April 2023 mit April 2024 vergleicht, dann kamen tatsächlich fünf Prozent weniger Touristen nach Estland. In Tartu hatten wir sieben Prozent Plus. Die Flugzeuge fliegen wieder, Züge und Busse fahren, alles funktioniert. Estland ist absolut sicher. Der Krieg ist von Tartu genauso weit weg wie von Berlin, ungefähr 1.000 Kilometer. Die Frage ist, was wir im Kopf machen.
Herr Klaas, vielen Dank für das Gespräch.