Wie ich versuchte Estnisch zu lernen

Mina, sina, tema, sagt Britt, meine Lehrerin und bewegt dazu ihre Hände: zu sich, von sich weg, zur Seite. Es ist die Eselsbrücke, die mir ich, du, er/sie/es leichter machen soll. Es funktioniert. Aber eigentlich verwenden alle nur die Abkürzungen, ma, sa, ta.

Meie, teie, nemand, wir, ihr, sie, geht es weiter. Schreibt man Teie groß, heißt es Sie – auch im Estnischen gibt es diese formelle Anrede.

Meie Tartu, habe ich kürzlich auf einem Plakat des Stadtmuseums gelesen. Wir Tartu? In dem Fall bedeutet es unser, sagt Britt.

Seit ich in Tartu bin, versuche ich etwas von der Sprache zu lernen. Weil ich es spannend finde, weil ich ein bisschen verstehen möchte was die Leute reden, weil Sprache Teil der Kultur ist. Die meisten rechnen dir das hoch an, wenn du versucht Estnisch zu sprechen, sagt Britt.

Aufgabe 9, ich soll antworten, Floskelniveau. Danke, vielen Dank, kein Problem, gern geschehen. Stell dir vor, sagt Britt, du fährst jemandem im Supermarkt mit dem Wagen über den Fuß, was sagst du dann? Ich schaue kurz auf die Liste, auswendig weiß ich das nicht.

Vabandust!

Sehr gut, und wenn jemand niest?

Tervist.

Das Wort bedeutet aber auch einfach Hi, es ist multifunktional. Britt hat noch mehr solcher Beispiele. Tee meint Tee, das Getränk, es heißt aber auch Straße, Weg, Gleis, und – ist eine Aufforderung. Tee kiiresti! bedeutet: Los, beeil dich! Ein anderes Beispiel ist palk, es meint das Gehalt, bedeutet aber gleichzeitig Holz, Klotz. Aus dem Kontext wisse man, was gemeint ist, sagt Britt. Niemand würde Gehalt und Holz im gleichen Atemzug verwenden.

So sehr sich die baltischen Länder auch ähneln in manchen Dingen, in der Sprache macht Estland sein eigenes Ding. Während Lettisch und Litauisch zu den indo-germanischen Sprachen gehören, ist Estnisch Teil der finno-ugrischen Sprachfamilie, verwandt mit der Sprache der Sámi in Lappland, mit Ungarisch und eng verwandt mit Finnisch. Manche Wörter bedeuten trotzdem das komplette Gegenteil.

Schieb den Kiefer ein bisschen nach vorne, sagt Britt, als ich bei Võta heaks stocke. Der Buchstabe õ macht Estnisch speziell, es klingt wie irgendwas zwischen Ö und Ü. Ich könne es auch erstmal wie Ö sprechen, meint Britt, dann würde ich wie die Menschen auf Saaremaa klingen. Soundtechnisch ist noch etwas zu beachten: Esten rollen das R – sie sagen Tarrrtu, lassen das T dabei fast zu einem D werden. Ich hingegen spreche ein hartes T und weiche den Rest des Namens zu etwas auf, was wie Tattoo klingt.

Üben, üben, üben.

Die ersten Zahlen lerne ich beim Yoga im Stadtpark. Üks, kaks, kolm, zählt die Lehrerin langsam die Atemzüge. Als ich ein paar Tage später vom Milchmann wissen will, wann er wieder in die Stadt kommt – er kommt von einem Bauernhof im Süden, mit Milch, Käse und Gemüse; wir sprechen mehr mit Händen als mit Worten – kombiniere ich, dass Kolmapäev der dritte Tag der Woche sein muss: Mittwoch. Er hatte es, nachdem er meine Frage verstanden hatte, auf einen Zettel geschrieben.

Rund eine Million Menschen sprechen Estnisch als Muttersprache. Arts of Survival, das Kulturhauptstadtmotto setzt auch hier an: Wie überlebt eine Sprache mit wenigen Sprecher:innen? Estlands Bevölkerungszahl sinkt.

„Kann nicht die Sprache dieses Landes, im Winde des Gesanges, zum Himmel aufsteigend, die Ewigkeit suchen?“, dichtete Kristian Jaak Peterson zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Peterson gilt als Begründer moderner estnischer Poesie. Sein Denkmal – und diese Zeilen – stehen heute auf dem Tartuer Domberg.

Die Welt wird globaler, Englisch wichtiger, im digitalen Estland ohnehin. Seit Anfang der 1990er ist Englisch Fremdsprache Nummer Eins, Platz Zwei war lange Russisch. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine änderte auch hier die Rollenverteilung. In den Schulen merken sie den Zulauf zu Deutsch, Spanisch, Französisch, Finnisch. Manche Schulen lassen Russisch als Fremdsprache auslaufen.

2022 verabschiedete das estnische Parlament zudem ein Gesetz, dass Estnisch künftig zur einzigen Unterrichtssprache machen soll. Bisher gab es auch russischsprachige Schulen, teils staatlich gefördert. Ungefähr 27 Prozent der Menschen in Estland sprechen Russisch, ein Erbe der Sowjetzeit, als Menschen aus dem Inneren des riesigen Landes gezielt hier angesiedelt wurden. Bis 2030 soll die Umstellung in den Schulen und Kitas abgeschlossen sein, in Tartu sogar schon 2025. Ein Prozess, der für Konflikte sorgt.

Vierte Stunde, ich muss die ersten Sätze bilden. „Ich heiße nicht Katriin“, fordert das Arbeitsbuch. Britt: Du kannst sagen: Ich heiße nicht Katriin – sie zieht das i in die Länge, zur estnischen Version meines Namens –, ich heiße Katrin.

Ma ei ole Katriin, ma olen Katrin, sage ich. Es klingt aufgesagt, wenn Britt spricht, hat es Melodie.

Nägema, sööma, rääkima. Sehen, essen, sprechen. Ich kritzel die Wörter in meinen Block, es ist gar nicht so leicht, eine Sprache von Null anzufangen. Die 14 grammatikalischen Fälle machen das Lernen nicht unbedingt leichter. Das geht offenbar auch jungen Est:innen so. Eine Deutschlehrerin hatte mir erzählt, Estnisch sei das neue Mathe.

Ma ei oska eesti keelt, schreibe ich und male einen Rahmen drum. Es heißt: Ich kann kein Estnisch. Vielleicht ändert sich das noch.

Irgendwo muss sich der Einfluss des Deutschen zeigen, hoffe ich insgeheim, sieben Jahrhunderte gemeinsame Geschichte haben auch sprachlich Spuren hinterlassen. Jedes fünfte Wort soll einen deutschen Ursprung haben.

trepp – Treppe

müts – Mütze

tund – Stunde

Der Pfirsich heißt im Estnischen virsik, die Suppe supp, Konzert wurde zu kontsert, Tanz ist tants. Die Schule, kool, erinnert dagegen eher ans englische school. Ülikool, Universität, bedeutet wortwörtlich höhere Schule. Zwei meiner Lieblingswörter sind: filosoofia, Philosophie, und füüsika, Physik. Nicht gerade alltagstauglich, aber irgendwie schön.

Ein Gedanke zu „Wie ich versuchte Estnisch zu lernen“

  1. so schade, dass ich deinen blog erst jetzt finde… hätte deinen sommer sonst gerne enger begleitet. grüße, bettina (die aus mittweida)

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