Sprüche an der Wand

Mit jedem Stock wird die Treppe schmaler, knarzt das Holz ein bisschen mehr, bis ein dunkler, massiver Holzbalken neben mir aus der Wand ragt, breit und hoch wie mein Unterarm. Er kündet von dem, was hinter der Tür liegt, vor der ich jetzt stehe: der Dachboden der Universität Tartu. Tür auf, Tür zu, Dämmerlicht. Holzbalken, die das Dach tragen, ein Weg aus Brettern, noch eine Tür. Dahinter ein Raum. Zwei Minifenster, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, in der Ecke ein Plumpsklo. Der Raum gerade so groß, dass man darin herumtigern kann.

Die Wände sind mit Sprüchen und Bildern bekritzelt. Da steht zum Beispiel auf Deutsch: Ein Fehler ist im Schöpfungsplan, dass man im Schlaf nicht trinken kann.

Im 19. Jahrhundert war dieser Raum oder vielmehr die Zeit, die die Studenten hier verbringen mussten, eine ernstgemeinte Erziehungsmaßnahme. Hier oben, unterm Dach der Uni, war eine Art Arrestzelle für Studenten-Vergehen: der Karzer.

Und der Strafenkatalog war lang. Unbezahlte Schulden: 1-2 Tage Karzer, im Park auf dem Domberg reiten: fünf Tage Karzer, duellieren: 3 Wochen Karzer. Einer Frau hinterherpfeifen, sich mit ihren Begleitern prügeln: vier Wochen Karzer. Zu einer der längsten Strafen wurde 1887 Arthur Schilling verurteilt. Er hatte eine Theateraufführung gestört, sich Angestellten und Polizei widersetzt und: den Universitätsdiener zweimal „Scheißkerl“ genannt. Fünf Wochen Karzer, urteilte das Uni-Gericht. Es funktionierte unabhängig vom städtischen Gericht.

Es sind aus heutiger Sicht Kleinigkeiten, die den Studenten Tage im Karzer einbrachten. Der spätere Uni-Rektor Friedrich Wilhelm Parrot saß wegen „Aufhetzen zur Schlägerei“ ein, Dichter Kristjan Jaak Petersen, weil er sich abends in der Stadt „herumgetrieben hatte“, und der spätere Professor für Kunst und Philologie, Ludwig Mercklin, weil er gezecht hatte.

Manch einer vertrieb sich die Zeit mit dichten: Da du ein Freund der Einsamkeit – Und fliehst des Lebens Sport – So stehe stehts für dich bereit – ein still verschwiegener Ort.

Einige der Sprüche sind 200 Jahre alt, und wenn sie nicht verblichen sind, kann ich sie lesen. Seit die Universität 1802 wiedereröffnet wurde, fand der Unterricht auf Deutsch statt – bis zur Russifizierung 1895.

Otto von Grünewaldt (1860-1936) – er studierte in Dorpat/Tartu Wirtschaft und Jura – beschrieb den Karzer in einem seiner Texte so:

„Aber auch abgesehen von der Unterhaltung, die das Betrachten der Wände gewährte, war man dort oben gar nicht schlecht aufgehoben. Nur durfte man sich nicht vor den Ratten fürchten, die vor der Karzertür auf dem Dachboden lärmten; – aber Ratten gehören schon einmal zur Fauna eines jeden Kerkers, der etwas auf sich hält; – Kröten und Molche fehlten vollständig, wie auch jedes andere, weniger romantische Ungeziefer.

Die Behandlung, die dem Gefangenen zuteil wurde, war eine durchaus menschenwürdige. Bei kurzer Haft brachten Aufwärterin oder Fuchs ihm sein tägliches Brot; – bei längerer Einkerkerung durfte er um die Mittagszeit in der Stadt seiner Nahrung nachgehen. Was zum Leben notwendig oder erwünscht war, durfte jeder mit sich bringen, wie Bettzeug, Wäsche, Bücher usw. Zu längerer Haft wurden sogar bequeme Möbel in den Karzer geschleppt.

So ließ sich das Leben da oben leicht ertragen. Ich wunderte mich daher nicht, dass zwei meiner lieben Freunde, Baron Roman und Baron Gustav Taube, die zusammen auf fast eine Woche eingesperrt wurden, dem Karzerknecht nach Ablauf ihrer Strafzeit erklärten, die hätten ihr begangenes Unrecht eingesehen und wollten von jetzt an ein Gott und Menschen wohlgefälligeres Leben führen; – da das aber in der bösen Welt schwierig sei, würden sie den Rest ihrer Studienzeit hier oben, nahe dem Himmel und fern jeder Versuchung verbringen.“

Tartu ist die älteste Stadt des Baltikums, 1030 gegründet, da passt es, dass auch die Uni eine der ältesten Nordeuropas ist. 1632 vom schwedischen König Gustav II. Adolf gegründet. Die Schweden herrschten damals über große Teile Nord- und Osteuropas.

65 Studenten gab es im ersten Jahr, Schweden, Deutsche, Stadtbürger und Pastorensöhne – die Adligen zogen die Unis der deutschen Länder vor – unterrichtet wurde auf Latein.

Keine 70 Jahre nach Eröffnung dann wurde die Uni nach Pärnu verlegt – das sei günstiger für die Schweden, argumentierte man – und kurz darauf dicht gemacht. Es dauerte fast hundert Jahre bis der Neustart gelang, die Kaiserliche Landesuniversität Dorpat am 21. April 1802 wieder-eröffnet wurde.

Ich laufe durch die fast menschenleeren Gänge des Hauptgebäudes. Eigentlich lernen hier mehr als 14.000 Studis, aber es ist Sommer, Semesterferien, halb Tartu macht Urlaub. In einer Vitrine hängen die Baupläne fürs Hauptgebäude, deutsch beschriftet, das Haus steht auf dem Gelände der ehemaligen Marienkirche. Draußen, an der Rückseite, sind im Sockel die Daten der Baujahre zu lesen. Von 1804, bis 1809, in Stein gemeißelt.

Mit der Uni kamen weitere Gebäude, die bis heute Tartus Altstadt prägen: die Sternwarte, die Uniklinik (heute der Staatsgerichtshof), die Bibliothek in der Domruine (heute das Museum), der Botanische Garten.

Im 19. Jahrhundert war die Universität die einzige deutschsprachige in ganz Russland, und Ende der 1880er mit knapp 1.800 Studenten nach Moskau und St. Petersburg Russlands drittgrößte. Es lernten Deutsche und Deutschbalten, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden auch Esten aufgenommen. Kein Wunder also, dass zwei der berühmtesten Absolventen ebenfalls Deutschbalten waren: Karl Ernst von Baer, Entdecker der menschlichen Eizelle, und der Nobelpreisträger für Chemie, Wilhelm Ostwald. Der Chemie-Saal, in dem Ostwald erst lernte und später lehrte, sieht heute wie vor 150 Jahren aus: Holzbänke, Holztische, Holzpult. Sogar die eingeritzten Marker der Studenten sind noch da, wurden mit restauriert.

Frauen durften übrigens lange gar nicht an die Uni, erst 1905 erlaubte mann ihnen, zumindest zuzuhören. Erst 1915 konnten sie sich als Studentinnen einschreiben.

Fotos zeigen die Uni im Lauf der Zeit. Wie die Russen 1894 erst ein orthodoxes Kreuz und acht Jahre später eine zwiebelförmige Kuppel aufs Dach setzten, die Nazis sie in Tarnfarben anmalten (1941-44 besetzte Nazideutschland Estland), 1965 ein Brand große Teile des Hauptgebäudes zerstörte. Auch die Aula. Sie wurde originalgetrau wieder aufgebaut, inklusive der hohlen Holzsäulen, die für die besondere Akustik sorgen. Nur das Porträt des russischen Zaren gibt’s nicht mehr.

Vor ein paar Wochen wunderte ich mich über den Menschenauflauf vor dem Hauptgebäude. Sommerkleider flatterten, Jacketts wurden zurechtgezuppelt, Blumensträuße warteten auf ihren Einsatz. Alle starrten gebannt auf die Leinwand. Statt Fußballern sah ich dort: strahlende Student:innen. In der Aula wurden Zeugnisse überreicht. Weil die Aula zwar groß ist – immerhin Estlands größter neoklassizistischer Saal –, aber geradeso für die Absolvent:innen reicht, wurde die Feier nach draußen übertragen. Zum Public Viewing für Freund:innen und Familie.

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Den Textauszug von Otto von Grünewaldt habe ich dem „Literarischen Stadtspaziergang – Studentisches Dorpat“ entnommen, einem Stadtrundgang entlang studentischer Anekdoten aus dem 19./Anfang 20. Jahrhundert. Noch umfangreicher ist der „Virtuelle Stadtplan Saksa Tartu/Deutsches Dorpat“ mit mehr als 170 Texten von fast 50 (deutsch-) baltischen Autor:innen, der in Zusammenarbeit von Universität und Stadtmuseum Tartu entstand.

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