Es ist dann doch immer wieder erstaunlich, wie schnell wir Menschen uns an Neues gewöhnen. Ich meine vor allem Alltägliches. Die quietschende Eingangstür im Haus, mein täglicher Weg über den Domberg, Treppe rauf, Treppe runter, die ballernde Sonne. Vielleicht liegt es am Norden, aber 25 Grad fühlen sich hier irgendwie wärmer an als in Berlin.
Teufelsbrücke, Engelsbrücke, küssende Studenten. Das schiefe Haus.
Und das schiefe Haus steht wirklich verdammt schief. 5,8 Grad neigt es sich, wenn man vom Rathausplatz schaut, nach links. Das sind fast zwei Grad mehr als der Turm in Pisa! Trotzdem fällt es nach dreimal dran vorbeilaufen gar nicht mehr auf. Ist eben schief. Der Grund ist übrigens derselbe wie in Pisa: sumpfiger, weicher Boden. Tartus schiefes Haus wurde 1793 gebaut, eine Hälfte stützt sich auf die alte Stadtmauer, die andere auf Pfähle. Und dass die nicht gleichmäßig in den morastigen Untergrund einsinken, kann man hier sehen.
In Tartu hat man eine passende Verwendung für das schräge Teil gefunden und das Kunstmuseum Tartmus einquartiert. Drinnen gab es gerade eine Ausstellung über Humor in Sowjetzeiten, als nicht jeder Witz lauthals rausposaunt werden konnte. Trotzdem wurden ganze Witzesammlungen angefertigt, es soll einen regelrechten Wettbewerb um die meisten und besten Witze gegeben haben. Der Preis für den Gewinner: ein Treffen mit Lenin. Natürlich auch ein Witz. Der eifrigste Sammler soll übrigens mehr als 4.500 Witze gesammelt haben. Humor als politische Rebellion.
Neben Witzen sind im Tartmus Zeichnungen, Collagen, Installationen und Malerei zu sehen. Der Papierflieger, der außen am Balkon des schiefen Hauses klemmt, gehört auch dazu. Eigentlich ist es ein Metallflieger, gefaltet auf dem Dach eines Hauses, aus eben jenem: dem Dach des Hauses. Tartu hat viele Dächer aus Metall und der Flieger erinnert an Karikaturen, die sich über die miese Qualität sowjetischer Bauten lustig machen. So billig, dass man aus dem Dach einen Flieger falten kann, einerseits.
Andererseits nimmt Künstler Flo Kasearu damit Bezug auf Russlands Kriegsbeginn in der Ukraine 2014, als russische Flugzeuge wiederholt auch den estnischen Luftraum verletzten, daraufhin Nato-Flieger zu patrouillieren begannen. Es ist, heißt es in der Ausstellung, Kasearus satirischer Kommentar zur Panik, die sich damals breitmachte.
Wie kriege ich jetzt die Überleitung zu Lilly Walther?
Ach richtig, es geht um Krieg und seine Folgen. Das Tartuer Kunstmuseum engagierte 1943, als ein Großteil der Sammlung durch Trümmer beschädigt war, eben jene Frau: Lilly Walther. Eine Malerin, Künstlerin, und vor allem Estlands erste professionelle Gemälde-Restauratorin. Lilly Walther half, beschädigte Kunstwerke wieder ansehnlich zu machen.
Lilly hieß eigentlich Caroline Auguste Bertha Walther. Eine Deutschbaltin, Enkelin des aus Dresden ausgewanderten Künstlers Carl Sigismund Walther und Tochter eines Gutsverwalters. Mittelschicht, 1866 in einem Dorf südlich von Tallinn geboren. Sie reiste viel, nach St. Petersburg, Paris und auf die Krim, sie lebte eine zeitlang in Berlin, studierte in München, reiste nach Weimar, Worpswede und Bürgel nahe Jena – damals Sitz bedeutender Töpfereien und Keramikhersteller. Lilly Walther hatte Porzellan-, Öl- und Aquarellmalerei studiert, als erste weibliche Studentin aus Estland an der Stieglitz Schule für angewandte Kunst in St. Petersburg.
Ihre vielen Reisen, die vielen Sprachen – neben Deutsch und Estnisch sprach sie auch fließend Russisch und Französisch – zeigen ihren im Vergleich zu anderen Künstlerinnen privilegierten Status, heißt es in dem Buch, dass anlässlich einer Lilly Walther-Ausstellung in Tartu vor zwei Jahren erschien.
Darin ist auch zu lesen, dass die Forschung zu deutschbaltischen Künstlerinnen noch jung ist. Künstler und ihre Werke waren oft Thema, Künstlerinnen jedoch – hatte man vergessen? Dabei waren Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts mindestens 50 deutschbaltische Künstlerinnen in Estland aktiv.
Lilly Walther war als Porzellanmalerin und Zeichenlehrerin bekannt, später auch als Landschaftsmalerin, für Blumenaquarelle und Porträts.
Anlässlich Walthers zweiter Soloausstellung schrieb die Revalsche Zeitung im Dezember 1912: „Den Clou der Ausstellung bilden unstreitig die Malmaison-Rosen. Gegen das Licht gestellt, von Sonne und Gold überschüttet sind sie mit ihrem ganzen Duft und Liebreiz auf die Leinwand gebannt. Kein Wunder, daß sie schon ihren Käufer gefunden haben. Lilly Walther liebt es überhaupt, die Blumen dem Licht entgegenzutragen, wie „die Rosen im Fenster“; oder Ton auf Ton zu malen, z.B. Gelb auf Gelb, wie „Gelbe Rosen“. Nur selten verwendet sie die Kontrastfarbe, wie in den „gelben Frühlingsblumen“. Dabei erhöht sich der Duft des Ganzen durch die vorher mit Kreide grundierte Leinwand.“ Die komplette Rezension kann man hier nachlesen.
Mit Anna von Maydell, Magda Luther und Ebba Weiß gründete Lilly Walther Anfang des 20. Jahrhunderts in Tallinn ein eigenes Studio für Kunsthandwerk, für Keramik, Glas, Leder und Holz.
Kurz vor ihrem 60. Geburtstag schlug Lilly Walther noch einmal ein neues Kapitel auf: Sie begann Gemälde zu restaurieren. Für das Estnische Kunstmuseum, für die Tallinner St. Nikolas Kirche, die Bruderschaft der Schwarzhäupter (Vereinigung deutscher Kaufleute). Das größte Leinwandbild, das Lilly Walther restaurierte, war das Altarbild „Himmelfahrt“. Ernst Friedrich von Liphardt hatte es 1900 für die Kirche St. Michael in Jõhvi gemalt, es hängt dort noch heute.
Und dann kam 1943 der Ruf aus Tartu. Zwei Sowjetische Bomben hatten das Gebäude neben dem Kunstmuseum getroffen, über 1.700 Werke unter Trümmern begraben. Die wichtigsten brachte man zu Lilly Walther. 15 Gemälde restaurierte sie vollständig, neun teilweise. Vier Gemälde fing sie noch an, ehe 1945 ihr Schüler Ilmar Ojalo übernahm. Lilly Walther wurde am 15. August 1945 nach Sibirien deportiert, wo sie ein Jahr später, mit 80 Jahren, starb.
Warum war Lilly Walther überhaupt noch in Estland, werden sich manche fragen. 1939/40 hatten die letzten 12.000 Deutschbalten Estland verlassen, im Hitler-Stalin-Pakt war Estland den Sowjets zugeschlagen worden. „Heim ins Reich“ lautete die großangelegte Umsiedlung. Lilly Walther hatte abgelehnt. „Welches Glück kann ich dort schon erwarten?“, soll sie gesagt haben, und: ihre Heimat sei Estland.
Vielen Dank, liebe Katrin, dass Du uns an die tolle Künstlerin Lilly Walther erinnert hast!
Am 15.8.45 fand ja die Deportation der Deutschen nach Sibirien statt.
Was hatte sie, ebenso wie viele andere Deportierten getan- nichts schlechtes, einfache normale Leute, nur ihre Nationalität …
… und das wiederholt sich auch heute. Unmenschlichkeit, Opfer in der Ukraine …