Deutsche Sprache, schwere Sprache

„Kannst du mir ein Obst sagen?“

„Die Trauben“, sagt ein Junge, und rollt dabei das R.

„Apfel“, sagt ein Mädchen in der letzten Reihe.

„Mit Artikel“

„Das … die …“, sucht das Mädchen nach der Lösung.

„Die Orange, die Birne, die Erdbeere, aber der Apfel. Warum? Keine Ahnung“, sagt Heidi Rajamäe-Volmer und zuckt mit den Schultern.

Deutsche Sprache, schwere Sprache, steht auf einem Blatt Papier an der Wand, darunter Bilder von Eierkuchen, Kartoffelsalat und Erbsensuppe. Rezepte in wackeliger Kinderschrift, neben einer Deutschlandkarte.

490 Schüler:innen zwischen Sechs und Achtzehn lernen an der Katholischen Schule Tartu, acht davon sitzen an diesem Mittwochmorgen vor Heidi. Die Jungen links, die Mädchen rechts. Deutschunterricht in der sechsten Klasse. Vor einem Jahr haben sie angefangen.

„Nimm dein Smartphone“, sagt Heidi, während auf dem Whiteboard nach und nach die Namen der Kinder aufploppen. Und die erste Frage: Welchen Artikel hat Museum? Dazu vier Antwortmöglichkeiten: Die, Der, Die, Das. Die Sechstklässler tippen auf ihren Handys. Deutschlernen als Quizshow, Heidi in der Rolle von Günther Jauch.

Was ist die Mehrzahl von Apotheke?

Die Apothekn, Die Apotheker, Die Apotheken, Die Apothekes.

Am Whiteboard hinter Heidi leuchten die Antworten der Kinder auf. Jede richtige gibt Punkte. „Correct“, steht auf dem Handydisplay, leiser Jubel am Tisch, während auf dem Bildschirm vorn ein Comictier auf und ab hüpft.

Nächste Frage: Was ist die Mehrzahl von Strand? Die Schüler:innen tippen auf ihren Displays. Strande und Strände bekommen jeweils vier Stimmen, Strands und Stränder null.

Nach zehn Runden ist das Quiz vorbei. Und wer gewonnen hat, gar nicht so wichtig.

„In der Schule musst du mitdenken, jung bleiben, neue Ansätze finden, auch wenn es das gleiche Thema ist“, sagt Heidi nach der Stunde, als wir bei einem Kaffee zusammensitzen. Kindern Deutsch beibringen war eigentlich nie ihr Plan. Anfang der 90er hatte sie sich für Theologie eingeschrieben, ein Fach, dass es zu Sowjetzeiten nicht gegeben hatte. Als Zweitfach wählte sie Deutsch. „Ich wollte nie Lehrerin werden, dachte, es sei zu schwer mit Pubertierenden“, sagt Heidi. Sie fing im Kindergarten an, mit den Kleinen auf dem Boden sitzen und „Hans Hase“ spielen, das mochte sie.

Und dann kam das Angebot, als Lehrerin anzufangen. Deutschlehrer:innen wurden gesucht, jahrelang waren nur wenige ausgebildet worden. Kitakinder sind viel netter, war Heidi überzeugt, und dass sie zu wenig über Didaktik wisse. Und überhaupt: Ihr Deutsch sei viel zu schlecht.

Heidi lacht. Zwölf Jahre unterrichtet sie mittlerweile Deutsch an der Katholischen Schule. Sie spricht so gut wie akzentfrei.

Angefangen Deutsch zu lernen hat sie in der 3. Klasse. Als zweite Fremdsprache war Deutsch zu Sowjetzeiten weit verbreitet. „Russisch habe ich nur widerwillig gelernt“, sagt Heidi, „für mich waren wir okkupiert, Russland Besatzer.“ Menschen aus dem Inneren der Sowjetunion wurden staatlicherseits in Estland angesiedelt, Russisch drohte Estnisch – etwas mehr als eine Million Muttersprachler sind nicht viel – zu verdrängen.

Die Unabhängigkeit 1991 änderte alles. Estland war frei und Heidi hielt ihr Abiturzeugnis in der Hand. Nur wenige Monate später, im Februar 1992, reiste Heidi nach Deutschland. Als Au-pair zu einer deutschbaltischen Familie nach Frankfurt am Main. Das erste Mal in den Westen. Heidi erinnert sich an die vielen Eissorten, die es dort gab – und wie fassungslos sie war, dass ihre Gastfamilie nur Vanilleeis kaufte. „Und was kaufe ich jetzt? Vanille“, sagt Heidi und lacht. Sie hat später in den USA gelebt, in Brüssel, vier Kinder großgezogen, und sagt: „Das Jahr in Deutschland war eines der besten meines Lebens.“

Heidi zeigt mir auf ihrem Handy das digitale Klassenbuch. Thema der jeweiligen Stunde, Tests, Hausaufgaben, Vertretungen, alles nachlesbar. Und planbar. Für Tests und Hausaufgaben gibt es eine wöchentliche Obergrenze. „Ich sehe nicht mehr als ich brauche oder erlaubt ist“, sagt Heidi, die nur Zensuren sieht, die sie gegeben hat. Die Eltern, die ebenfalls Zugriff haben, sehen dagegen alle Noten – von ihrem Kind. Sie könne Eltern über das Tool auch anschreiben, erklärt Heidi.

Dann leuchtet eine Nachricht auf. „Auch Lehrer haben Probleme“, sagt Heidi, seufzt und entschuldigt sich, sie müsse kurz telefonieren. „Meine Tochter will die Schule schwänzen.“ Heidi bietet an, sie mit dem Auto abzuholen.

Die deutsche Sprache hat in Estland eine kleine Reise hinter sich. Einst die Bildungssprache, später zweite Fremdsprache, sank das Interesse nach der Wende kontinuierlich. „Die Omas und Opas haben alle Deutsch gelernt und gesprochen“, sagt Heidi. In den 2010ern aber: wenig Studierende, kaum Lehrerinnnen, kleine Klassen. In den allermeisten Schulen ist heute Englisch die erste, war Russisch oft die einzige zweite Fremdsprache. Dabei sollte es eigentlich eine Wahl bei der zweiten Fremdsprache geben.

Das Bildungsministerium intervenierte, seitdem steigen die Zahlen in den Deutsch-, Französisch-, Finnisch- und Spanischklassen in Estland. Der Anteil derjenigen, die mit Deutsch anfingen, stieg laut offiziellen Zahlen landesweit in den letzten zwei Schuljahren von neun auf 17 Prozent. Russisch als zweite Fremdsprache sank dagegen von 78 auf 59 Prozent.

Die Universität Tartu bot vergangenes Semester erstmals wieder einen Deutschkurs auf C1-Niveau an. Deutsch für Fortgeschrittene.

An der Katholischen Schule in Tartu, wo Russisch und Deutsch etwa gleich beliebt waren, haben sie entschieden, gar keine neue Russisch-Klasse zu eröffnen. Stattdessen haben Fünftklässler jetzt die Wahl zwischen Deutsch und Finnisch. Der Krieg in der Ukraine, er hinterlässt auch hier Spuren.

Längst beschlossen ist, dass russischsprachige Schulen bis 2030 auf Estnisch umstellen müssen. Bis vor ein paar Jahren waren die – Russisch ist die größte Minderheitensprache in Estland – noch staatlich gefördert worden. Integration, Akzeptanz, es ist die Frage, wie man miteinander auskommen kann – und will. Viele russischsprechende Menschen würden beim Arzt und im Supermarkt erwarten, dass man mit ihnen Russisch spricht, sagt Heidi.

In der Heidis Deutschklasse ist es inzwischen kurz vor Zehn. Heidi läuft zwischen den Reihen umher, ein letztes Mal sollen die Kinder sprechen. „Heidi sammelt Kaffeetassen und Elefanten“, sagt sie, dann deutet sie auf den Jungen in der ersten Reihe. „Heidi sammelt Kaffeetassen und Elefanten“, wiederholt er, „und ich sammle Deckel.“ Der Junge hinter ihm ist dran. Kaffeetassen, Elefanten, Deckel, zählt er auf – „und ich sammle Euromünzen“, sagt er. Es folgen Geldscheine, Holzwaffen, Kochbücher, Pflanzen, der Satz wird länger und länger.

„Schnippschnapp“ sagt Heidi, klatscht in die Hände und hilft, wenn jemand zu lange überlegt.

Später erzählt mir Heidi noch von ihren Deutschlernanfängen. Damals musste sie einen Aufsatz schreiben, „Mein Tag“. Genau wie ihre Schüler heute. Das Heft mit ihrem Aufsatz hat sie noch. „Ich erkenne die Fehler, die meine Schüler jetzt machen“, sagt sie. „Ich gehen einkaufen, oder: Ich kaufen ein Brot.“ Sie lacht. Eine Drei minus* bekam sie damals. Heute zeigt sie ihren Schülern den Aufsatz und sagt: Schaut her, ich konnte das früher auch nicht. Aber wenn ich es geschafft habe, schaffst du das auch.

*Die Zensuren reichen in Estland von 1 (ungenügend) bis 5 (sehr gut).

2 Gedanken zu „Deutsche Sprache, schwere Sprache“

  1. Liebe Katrin, wie interessant dieser Artikel. Gut zu wissen,dass es auch anderswo ein digitales Klassenbuch gibt und scheinbar cool in der Anwendung ist,für alle Beteiligte.Ich quäle mich gerade mit dieser Neuerung. Toll zu lesen,wie Deutschunterricht gestaltet werden kann. Danke für deine tollen Texte u Einblicke in ein für mich fremdes Land.
    Vielen Dank und bis bald
    Kerstin!

  2. Liebe Kerstin, danke für die lieben Worte! Die Umstellung in der Schule hat vermutlich auch in Estland Zeit und Geduld erfordert, ich wünsch dir viel Erfolg (und einen langen Atem). Bis ganz bald 🙂

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert