Wie eine bunt schillernde Schlange windet sich der Umzug durch die Straßen. Vom Rathausplatz bis zur Sängerbühne schlängelt er sich, linksrum, rechtsrum, den Berg rauf. Tausende Menschen mit Blumenkränzen im Haar, Fähnchen in den Händen, gemusterten Kleidern. Ketten aus Metall, Schuhe aus Leder, so, wie es früher getragen wurde. „Es lebe hoch der Chor aus Elva“, ruft ein Zuschauer, „Hurra!“, jubelt der Chor zurück. „Es lebe hoch das Treffner-Gymnasium“ – „Hurra“, antworten die Sänger:innen.
Ein großes Gewinke und Fahnen Gewackel.
Dann stellen sie sich auf der Bühne auf: 9.914 Sänger:innen, darunter 3.000 Kinder, das Orchester des Vanemuine-Theaters. Als das erste Lied beginnt – es ist immer „Koit“ von Mihkel Lüdig und Friedrich Kuhlbars -, stehen die 15.000 Menschen auf den Rängen auf, beim Laulupidu, dem Liederfest.
Das, ganz zu Beginn, auf deutschen Chorliedern basierte, die ins Estnische übersetzt wurden. Vor 155 Jahren. Einen Umzug mit Fahnen und Trachten, wie er heute dazugehört, kannte man damals nur von deutschbaltischen Vereinen. Nachahmer, lästerten Teile der deutschbaltischen Presse.
„Selbst Jugendliche, die damit nichts anfangen können, haben eine Träne im Auge, wenn sie dann da sind“, hatte mir Maarja Leedjärv beim Besuch des Liederfestmuseums kurz vorher noch erzählt. Und dass jede:r Este:in einmal im Leben dabei gewesen sein müsse. „Es ist so kraftvoll, so mächtig“, sagte sie. Maarja Leedjärv ist Kuratorin, beschäftigt sich vor allem mit dem 19. Jahrhundert. Der Zeit, als das Liederfest entstand.
1869 war das, in Tartu. Im Liederfestmuseum hängt ein Stadtplan von damals, Dorpat steht drüber, der deutsche Name der Stadt. Esten, Deutsche und Russen lebten hier neben- und miteinander.
Ähnlich den deutschbaltischen Liederfesten in Riga (1836) und Tallinn/Reval (1857), plante nun also auch der Tartuer Sing- und Spielverein Vanemuine das erste landesweite estnische Liederfest. Offizieller Anlass: eine Feier zu 50 Jahren Abschaffung der Leibeigenschaft.
Tartu/Dorpat war damals Teil des russischen Reiches, der Zar musste das Fest genehmigen, beziehungsweise sein Gouverneur für die baltischen Ostseeprovinzen. Nach einigem Hin und Her kam die Erlaubnis, ein Sängerfest schien harmlos.
Die erste Gesangsprobe fand hinter verschlossenen Türen statt – mann hatte wohl Angst, es könnte ganz schlimm klingen. Denn Singen durften nur Männerchöre, alles andere hielt Festleiter Johann Voldemar Jannsen für unsittlich. 822 Sänger und 56 Blechbläser traten Ende Juni vor über zehntausend Menschen auf. Menschen aus dem ganzen estnischen Sprachraum waren dafür nach Tartu gekommen.
Geistliche Lieder am ersten Tag, weltliche am zweiten. Darunter die jetzige Hymne Estlands „Mu isamaa, mu õnn ja rõõm“. Der dritte Tag war ein Wettstreit der Chöre und Blaskapellen. Drei Tage Singen, Feiern, Reden halten. Im Liederfestmuseum ist das deutsch-estnische Programmheft von damals ausgestellt.
Zu lesen ist dort auch ein Zitat von Adalberg Hugo Willigrode, deutschbaltischer Pfarrer, Schriftsteller und Sänger, und: Vorsitzender des Liederausschusses. „Früher hatten wir das Landvolk, aber das ist nicht genug, sagen sie – sie sind jetzt die Esten.“ Nationale Ideen waren, wie überall in Europa, in Mode und Willigrode offensichtlich kein Fan dieser Entwicklung.
„Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Esten kein Mitspracherecht bei der Stadtverwaltung“, schreiben Anti Selart und Mati Laur in ihrem Buch „Dorpat/Tartu“. Russische Machthaber, deutsche Oberschicht, Klassengesellschaft. Die Esten suchten – sich.
Vor dem Liederfest hatte das zu einem Streit ums Repertoire geführt: Darum, ob es nun ein deutsches Sängerfest auf Estnisch sein sollte – oder eines mit Liedern estnischer Komponisten.
Nationales Erwachen nennen Historiker:innen das.
Das Liederfest befeuerte diese Idee. In den Folgejahren wurden zahlreiche Vereine und Orchester gegründet, estnische Lieder geschrieben. In Tartu/Dorpat taten sich 1870 zehn Uni-Studenten zu „Kalevipoeg-Abenden“ zusammen, um den Nationalepos zu lesen – aus ihnen wurde später der Verein Studierender Esten, ihre Fahne Nationalfahne, sie ist es bis heute.
Aber zurück zum Liederfest. Die Gesellschaft veränderte sich, die Machthaber wechselten, das Liederfest blieb. Es überlebte, als nach dem 2. Weltkrieg viele Est:innen das Land verließen, wurde für sie zum Fixpunkt – 1946 zuerst in Oberbayern, 1947 in Augsburg, später auch in Schweden, den USA, Kanada. Es überlebte die Sowjetzeit, als es instrumentalisiert wurde: rote Fahnen, sowjetische Lieder, Chöre der Roten Armee. Ende der 1980er wurden die alten Lieder wieder ausgepackt, erst heimlich, mit 200, 300 Jugendlichen, dann ganz offen. Die singende Revolution, sagen sie in Estland.
Die Erinnerung an diese Zeit, als Estland Sowjetrussland abschüttelte, wieder frei wurde, sie ist, was die Bedeutung des Festes für die Menschen heute ausmacht. Und ein wenig Nostalgie: Alle, die ich frage, haben selbst schonmal auf der Bühne gestanden, mitgesungen.
Auf den Rängen der Sängerbühne ist es Abend geworden, ein junger Mann nimmt seine Freundin in den Arm, ihre Augen sind gerötet, sie wischt sich die Tränen weg. Mehr als vier Stunden haben sie hier gesungen, Tartus Bürgermeister ist da, Estlands Präsident. So ganz fassen kann ich die Bedeutung, die das Liederfest für die Menschen hat, noch nicht. Vielleicht, überlege ich, muss man es auch so sehen: Das Land ist klein, flächenmäßig etwa so groß wie Niedersachsen, zählenmäßig so viele Menschen wie München. Da stellt sich die Frage nach Gemeinschaft und Zukunft, nach dem Überleben von Sprache, Kultur, Traditionen. Das Motto der Kulturhauptstadt, „Arts of Survival“, die Kunst des Überlebens, es bezieht sich auch darauf.
Mit einem aggressiven Nachbarn ist dieses Thema noch ein bisschen dringender geworden.
Die UNESCO jedenfalls nahm die baltischen Liederfeste – es gibt sie auch in Lettland und Litauen – 2003 in die Liste der immateriellen Weltkulturerbe auf.
Vielen Dank, Katrin, für Ihren ausführlichen, mit historischen Exkursen gespickten Beitrag!
Mir gefallen auch vor allem die wunderschönen Trachten der Frauen und jungen Mädchen.