Fünf Tage, sechs Züge

Draußen, vor dem Zugfenster, ziehen gelbe Felder, grüne Wiesen und braune Äcker vorbei. Holzkirchen, Windräder, Häuser wie in die Landschaft gewürfelt. Drinnen klopft der Koch auf einem Schnitzel herum, während ich meine Piroggi auf die Gabel spieße. Gut fünfeinhalb Stunden braucht der Berlin-Warschau-Express. Es ist der erste Tag.

Ich will nicht schnell irgendwohin, ich will reisen. 1.800 Kilometer von Berlin nach Tartu. Sechs Züge, fünf Tage, vier Landesgrenzen und eine Zeitzone.

17.30 Uhr, Warszawa Centralna, Sowjetschick inmitten von Hochhaustürmen. Ein kurzer Spaziergang, Hotel am Bahnhof, am nächsten Morgen stehe ich um 7.30 Uhr wieder an Gleis 2.

Im Abteil schnarcht ein Mann mit offenem Mund. Ich setze mich ans Fenster, mir gegenüber packen Vater und Tochter ihr Frühstück aus. Saulé ist Sieben, sie war bei den Großeltern in Warschau, fährt jetzt zurück nach Hause, nach Vilnius, erzählt sie.

Für sechs Stunden ist unser Abteil wie eine kleine Zugfamilie. Der Mann, der vorher noch geschnarcht hat, reicht Servietten, als Saulés Vater das Eigelb über die Finger läuft, gegenseitig übersetzen wir die Zugdurchsagen. Polnisch, Englisch, Hände und Füße.

Schnurgerade führt die Strecke durch den Wald. Białystok, Suwałki, Trakiškės. Auf dem Nachbargleis ein Zug mit Militärfahrzeugen: Jeeps mit Kanonenhalterung, Transporter, kleine Panzer. Ukraine, steht drauf.

Dass Putin versuchen könnte das Baltikum abzuschneiden, die Nato zu testen, hier, an der schmalsten Stelle, dieses Szenario hatte mich Wochen zuvor aufhorchen lassen. Wo Polen an Litauen grenzt, trennen Belarus und die russische Exklave Kaliningrad nur 100 Kilometer.

Im Schritttempo rollen wir durch bilderbuchschöne Hügelwelten. „Es schneit!“ sagt Saulé und zeigt aus dem Fenster. Ihr Vater starrt stumm in die Landschaft.

In Mockava ist Ende, Umsteigen. Dicke Tropfen klatschen auf meine Kapuze. 15 Minuten warten im Nirgendwo. Der litauische Zug fährt gegenüber. Neues Personal, neues Baujahr, neue Spurbreite. Während der polnische Zug auf 1435 Millimeter fährt, gibt es in Litauen die russische Breitspur, 1520 Millimeter.

Vor dem Fenster: Frühlingslandschaft mit Schneehaube. Um 17.34 Uhr, auf die Minute pünktlich, hält der Zug in Vilnius. Ich lege einen Pausentag ein. Altstadt, Burg, Markthalle, das erste Mal Litauen. Gefällt mir.

Der nächste Morgen. Kurz nach Sechs in der Früh stehe ich wieder am Bahnhof. Der Zug ist ziemlich leer, die Verbindung nach Riga nagelneu. In den Flussniederungen steht dichter Nebel, unter einem Baum zwei Rehe. Würfelförmige Häuserblocks, Fabriken, Felder, in den gut vier Stunden halten wir selten. Eine SMS erinnert mich an die Grenze: Willkommen in Lettland.

So unkompliziert muss es früher auf der ganzen Strecke gewesen sein, als die Petersburg-Warschauer Eisenbahn 1862 eröffnet wurde. In einem Atlas von 1952 ist sie eingezeichnet, schwarze Linien verbinden Berlin, Warschau, Hrodna in Belarus – hier wurde umgespurt –, mit Vilnius und Riga.

Es ist Mittag, als ich in Riga ankomme. Ich wandere durch die Altstadt, die Markthallen sind viermal so groß wie in Vilnius, alte Zeppelinhallen.

Weiter, immer weiter.

Der Zug, der mich am nächsten Morgen zur Grenze bringt, ist eiskalt. Weil es keine Gepäckfächer gibt, bugsiere ich meine Reisetasche zwischen die Sitze – der Grund, weshalb man für Taschen Tickets (2 Euro) kaufen muss, schlussfolgere ich. Das gleichförmige Rattern macht mich schläfrig. Wir halten gefühlt an jeder Milchkanne.

Knapp fünf Stunden brauchen die Busse von Riga nach Tartu. Sie fahren durch, ich muss in Valga aussteigen. Endstation für den lettischen Zug. Der estnische fährt – in dreieinhalb Stunden. „Tere Tulemast“ prangt in Großbuchstaben am Bahnhofsgebäude. Willkommen in Estland.

Trotz Bummelei wären die Züge – mit Umsteigen – 30 Minuten schneller als der Bus. Würde nur mal jemand die Fahrpläne anpassen. Ich verbringe die Wartezeit mit Kartoffeln, Fisch und Kaffee.

Um 17.29 Uhr beginnt die letzte Etappe. Es ist der fünfte Tag, der sechste Zug, jetzt will auch ich ankommen. Alles läuft glatt, es ist fast langweilig nach all den Tagen. Der Zug ist pünktlich, das Wlan schnell, die Menschen freundlich.

Und dann bin ich da, steht Tartu über der Tür vom Bahnhof. Menschen strömen in den Zug, ich wuchte meine Tasche unters Holzdach. Da bin ich.

4 Gedanken zu „Fünf Tage, sechs Züge“

    1. Danke, liebe Sophie! Das Foto zeigt den Tartuer Bahnhof, es ist dort in der Unterführung zu sehen. Ich habe es abfotografiert, einen Hinweis über Herkunft oder Jahreszahl aber nicht gefunden – weißt du da vielleicht mehr? Viele Grüße

      1. Nachtrag: Ich habe gestern mit einem Historiker gesprochen, der das Bild aber auch nicht genau zuordnen kann. Es liegt aber die Vermutung nahe, dass das Bild aus dem Atelier Carl Schulz stammt 🙂

        1. Ja, das freut mich natürlich! Dieser Ururgroßvater hat in Dorpat/Tartu echt viel fotographiert. Ich kann ja mal Sven Lepa fragen, er weiß es gewiss… herzlich, Sophie

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