Lilly und die Kunst

Es ist dann doch immer wieder erstaunlich, wie schnell wir Menschen uns an Neues gewöhnen. Ich meine vor allem Alltägliches. Die quietschende Eingangstür im Haus, mein täglicher Weg über den Domberg, Treppe rauf, Treppe runter, die ballernde Sonne. Vielleicht liegt es am Norden, aber 25 Grad fühlen sich hier irgendwie wärmer an als in Berlin.

Teufelsbrücke, Engelsbrücke, küssende Studenten. Das schiefe Haus.

Und das schiefe Haus steht wirklich verdammt schief. 5,8 Grad neigt es sich, wenn man vom Rathausplatz schaut, nach links. Das sind fast zwei Grad mehr als der Turm in Pisa! Trotzdem fällt es nach dreimal dran vorbeilaufen gar nicht mehr auf. Ist eben schief. Der Grund ist übrigens derselbe wie in Pisa: sumpfiger, weicher Boden. Tartus schiefes Haus wurde 1793 gebaut, eine Hälfte stützt sich auf die alte Stadtmauer, die andere auf Pfähle. Und dass die nicht gleichmäßig in den morastigen Untergrund einsinken, kann man hier sehen.

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Sprüche an der Wand

Mit jedem Stock wird die Treppe schmaler, knarzt das Holz ein bisschen mehr, bis ein dunkler, massiver Holzbalken neben mir aus der Wand ragt, breit und hoch wie mein Unterarm. Er kündet von dem, was hinter der Tür liegt, vor der ich jetzt stehe: der Dachboden der Universität Tartu. Tür auf, Tür zu, Dämmerlicht. Holzbalken, die das Dach tragen, ein Weg aus Brettern, noch eine Tür. Dahinter ein Raum. Zwei Minifenster, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, in der Ecke ein Plumpsklo. Der Raum gerade so groß, dass man darin herumtigern kann.

Die Wände sind mit Sprüchen und Bildern bekritzelt. Da steht zum Beispiel auf Deutsch: Ein Fehler ist im Schöpfungsplan, dass man im Schlaf nicht trinken kann.

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Annelinn

„Hier hat er gewohnt, der berühmteste Eismann von Annelinn“, sagt Jordi, und zeigt auf das Haus auf der anderen Straßenseite. Ein sanierter Plattenbau, fünf Stockwerke, die Balkone zur Straße. Nach Eismann sieht es hier ganz und gar nicht aus. „3, 2, 1“, zählt Jordi runter, dann rufen wir: „Eiscreme!“. Ganz oben öffnet sich die Glasverkleidung, die den Balkon zum Wintergarten macht, eine Frau schaut runter, in der Hand: ein in rosa Plastik verpacktes Eis! Sie lässt es fallen, Jordi fängt, also fast.

War das Zufall? Die Geschichte vom Eismann ist wahr, der Rest – ist Teil von „Läbi Linna – Through the City“, ein als Stadtführung getarntes Theaterstück. Aufgeführt zwischen den Plattenbauten von Annelinn, von Schauspieler:innen, Bewohner:innen – und uns. Ich bin Teil der Gruppe, die Jordi durch Annelinn folgt.

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Kastani 1

Blätter rascheln, Vögel zetern, Autos rauschen vorbei. Ich sitze auf der Bank vorm Hauseingang, die Sonne knallt, dabei ist es noch nicht mal Zehn. Ein Mann rollt auf Inline Skates vorbei, eine Frau mit Kinderwagen, der Holzzaun, der mich von ihnen trennt: mehr Grau als Rosa.

Samstagmorgen, mein zweiter Kaffee.

Deutsches Kulturinstitut Tartu Saksa Kultuuri Instituut steht in einem Bogen über der Eingangstür. Ich drücke die Tür auf. Ein Quietschen schallt durchs Haus.

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