Die Stadt aus Kindersicht

„Als wir einmal am Morgen in das Gärtchen hinausliefen, fanden wir einen toten Frosch, der wohl in der Gartenpforte eingeklemmt worden war. Das war nun für uns ein trauriges Ereignis! […] Vom Fenster unserer Stadtwohnung aus hatten wir oft Beerdigungen vor der russischen Kathedrale gesehen, und unser Kindermädchen hatte uns zum Zusehen hingeführt. […] Es war daher naheliegend, daß wir beschlossen, der Frosch müßte richtig beerdigt werden. […]

Eine Papirosschachtel (Zigarettenschachtel) ließ sich beschaffen. Sie wurde mit Blättern und Wiesenblumen ausgelegt. Darauf wurde der Frosch gebettet, wobei uns fast übel wurde, denn er sah so halb zerquetscht recht unappetitlich aus. Dann wurde die geschlossene Schachtel auf unseren Spielkarren gelegt und im Garten unter dem Gesang „Bosko, Bosko“ (vom russischen Gospodi, o Herr) herumgefahren. Schließlich wurde die Schachtel im Garten begraben, ein kleiner Hügel aufgeworfen und mit Wiesenblumen geschmückt. Auch ein kleines Kreuz aus zwei Hölzchen durfte nicht fehlen. Meine Mutter entfernte es aber, als sie es sah. Dieses ging ihr zu weit.“

Mehr als einhundert Jahre ist diese Szene her, aufgeschrieben hat sie Oswald Hartge, 1895 in Dorpat geboren. Hartge wohnte damals mit seiner Familie in der Magazinstraße, heute Magasini, neben dem von Zeddelmann’schen Privatgymnasium, der Turnhalle des Deutschen Turnvereins aus rotem Backstein (heute ein Theater, ich stand gestern wieder davor), Resten der Stadtmauer. Hartge erzählt in „Auf des Lebens großer Waage“ von Spaziergängen im Botanischen Garten, gleich um die Ecke, von Streifzügen am Embachufer, davon, wie ihn seine Mutter zum Viktualien-, sein Vater zum Holzmarkt mitnahmen.

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Wie plant man ein Kulturhauptstadtjahr, Kati Torp?

Knapp drei Jahre bevor das Kulturhauptstadtjahr tatsächlich begann, steckte Kati Torp schon mittendrin. Plante, sprach mit Künstlerinnen, feilte am Programm. Kati Torp ist die künstlerische Leiterin der Kulturhauptstadt. Sie hat Kunstgeschichte studiert, am Kunstmuseum KUMU in Tallinn als Kuratorin für zeitgenössische Kunst gearbeitet, 2017 den estnischen Pavillon für die Biennale in Venedig kuratiert.

Für das Gespräch treffe ich sie am Rathausplatz in einem Altbau, unten rosa, oben weiß gestrichen, „Tartu 2024“ ist auf die Wand gepinselt. Die Organisationszentrale der Kulturhauptstadt liegt im ersten Stock, der Meetingraum ist mit Aufstellern und Postern voll, pink und türkis, die Farben des Jahres. Man blickt von hier auf den Brunnen mit den küssenden Studenten, den Rathausplatz, die ganz großen Events.

Ist es anstrengend, ein Jahr Kulturhauptstadt zu organisieren?

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Stadtschreiberin trifft Stadtschreiberin

Was macht eigentlich eine Stadtschreiberin? Ich schaue Maarja Pärtna an. Normalerweise muss ich diese Frage beantworten, endlich kann ich sie mal stellen. Meine Antwort reicht von Menschen treffen und Tartu entdecken über ein Erzählcafé veranstalten bis hin zu: meine Erlebnisse auf dem Blog dokumentieren. Ich bin immer auf der Suche nach Geschichten. Und Maarja?

Sie überlegt nicht lang. Tartu ist Stadt der Literatur, erzählt sie, Teil eines weltweiten Netzwerks kreativer Städte, ein Unesco-Projekt. Heidelberg gehört dazu, und Bremen, Vilnius und Odessa, Barcelona, Bagdad und Beirut. Gerade sei eine Autorin aus Reykjavik da, sagt Maarja, die sich um die Gast-Autorinnen kümmert, das Literaturfestival mitorganisiert und auch sonst alle Netzwerk-Veranstaltungen in Tartu in diesem Jahr koordiniert.

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Lilly und die Kunst

Es ist dann doch immer wieder erstaunlich, wie schnell wir Menschen uns an Neues gewöhnen. Ich meine vor allem Alltägliches. Die quietschende Eingangstür im Haus, mein täglicher Weg über den Domberg, Treppe rauf, Treppe runter, die ballernde Sonne. Vielleicht liegt es am Norden, aber 25 Grad fühlen sich hier irgendwie wärmer an als in Berlin.

Teufelsbrücke, Engelsbrücke, küssende Studenten. Das schiefe Haus.

Und das schiefe Haus steht wirklich verdammt schief. 5,8 Grad neigt es sich, wenn man vom Rathausplatz schaut, nach links. Das sind fast zwei Grad mehr als der Turm in Pisa! Trotzdem fällt es nach dreimal dran vorbeilaufen gar nicht mehr auf. Ist eben schief. Der Grund ist übrigens derselbe wie in Pisa: sumpfiger, weicher Boden. Tartus schiefes Haus wurde 1793 gebaut, eine Hälfte stützt sich auf die alte Stadtmauer, die andere auf Pfähle. Und dass die nicht gleichmäßig in den morastigen Untergrund einsinken, kann man hier sehen.

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In den Stürmen der Welt

Vor dem Krieg war ich: Happy

Jetzt bin ich: trauriges Smiley

Zwei Pinnwände, zwei Satzanfänge, darunter Zettel, auf denen jede und jeder ergänzen kann, was sie oder er gerade fühlt. Vor dem Krieg habe ich in einer Bank gearbeitet, hat jemand geschrieben. Und daneben: Jetzt habe ich keinen Job, mache mir Sorgen um meine Familie in Kyjiw, habe Angst.

Plötzlich wird das Kulturhauptstadt-Motto brutal real. Arts of Survival, Überlebenskünste.

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Wie ich versuchte Estnisch zu lernen

Mina, sina, tema, sagt Britt, meine Lehrerin und bewegt dazu ihre Hände: zu sich, von sich weg, zur Seite. Es ist die Eselsbrücke, die mir ich, du, er/sie/es leichter machen soll. Es funktioniert. Aber eigentlich verwenden alle nur die Abkürzungen, ma, sa, ta.

Meie, teie, nemand, wir, ihr, sie, geht es weiter. Schreibt man Teie groß, heißt es Sie – auch im Estnischen gibt es diese formelle Anrede.

Meie Tartu, habe ich kürzlich auf einem Plakat des Stadtmuseums gelesen. Wir Tartu? In dem Fall bedeutet es unser, sagt Britt.

Seit ich in Tartu bin, versuche ich etwas von der Sprache zu lernen. Weil ich es spannend finde, weil ich ein bisschen verstehen möchte was die Leute reden, weil Sprache Teil der Kultur ist. Die meisten rechnen dir das hoch an, wenn du versucht Estnisch zu sprechen, sagt Britt.

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Kultur ist wie Klebstoff

Vor ein paar Tagen hatte ich die Gelegenheit mit Bürgermeister Urmas Klaas zu sprechen. Er empfing mich im Rathaus, in seinem Büro im ersten Stock. An der Wand hängt ein Luftbild der Stadt, am Regal prangen die Sterne der Europafahne, hinterm Schreibtisch: Ein graublauer Sitzsack mit Klaas‘ Vornamen drauf. Normalerweise kann Tartus Bürgermeister von hier aus die Menschen über den Rathausplatz spazieren sehen, gerade ist der Blick von einer riesigen Bühne versperrt. Kulturhauptstadtfeierlichkeiten.

Herr Klaas, Deutschland und Estland haben eine lange gemeinsame Geschichte. Das Rathaus, in dem wir sitzen, wurde von einem Rostocker Architekten entworfen, bis 1917 waren viele Bürgermeister Deutschbalten. Wir führen das Interview auf Deutsch, was ist Ihre persönliche Verbindung zu Deutschland?

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Johanni, Jaanipäev oder einfach Jaani

„Jestern war Johanni. Sie wissen ja, daß bei uns in Eestland Johanni ein großes Pidu ist, das größte vom ganzen Sommer. Unsere Perenaine kam mit ihrer Schwester, um mit uns zu feiern. Am Telephon sagte sie, wir wollten ordentlich schwuchten; aber wie soll man das, ohne das kleinste bißchen zum Anbieten? In unserer Schafferei steht kein Bierchen, kein Allasch, nicht mal Kwas. Meine Frau backte schnell ein paar Kohlpiroggen, – Speck haben wir ja nicht, – aber weil sie zwischendurch immer ihren dämlichen Dante las, verbrannten die Piroggen von unten. Strunt auch! Wir kratzten sie tüchtig ab und legten sie auf Erdbeerblätter. Ich kann Ihnen sagen: wunderhübsch!

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Sie singen

Wie eine bunt schillernde Schlange windet sich der Umzug durch die Straßen. Vom Rathausplatz bis zur Sängerbühne schlängelt er sich, linksrum, rechtsrum, den Berg rauf. Tausende Menschen mit Blumenkränzen im Haar, Fähnchen in den Händen, gemusterten Kleidern. Ketten aus Metall, Schuhe aus Leder, so, wie es früher getragen wurde. „Es lebe hoch der Chor aus Elva“, ruft ein Zuschauer, „Hurra!“, jubelt der Chor zurück. „Es lebe hoch das Treffner-Gymnasium“ – „Hurra“, antworten die Sänger:innen.

Ein großes Gewinke und Fahnen Gewackel.

Dann stellen sie sich auf der Bühne auf: 9.914 Sänger:innen, darunter 3.000 Kinder, das Orchester des Vanemuine-Theaters. Als das erste Lied beginnt – es ist immer „Koit“ von Mihkel Lüdig und Friedrich Kuhlbars -, stehen die 15.000 Menschen auf den Rängen auf, beim Laulupidu, dem Liederfest.

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