Sprüche an der Wand

Mit jedem Stock wird die Treppe schmaler, knarzt das Holz ein bisschen mehr, bis ein dunkler, massiver Holzbalken neben mir aus der Wand ragt, breit und hoch wie mein Unterarm. Er kündet von dem, was hinter der Tür liegt, vor der ich jetzt stehe: der Dachboden der Universität Tartu. Tür auf, Tür zu, Dämmerlicht. Holzbalken, die das Dach tragen, ein Weg aus Brettern, noch eine Tür. Dahinter ein Raum. Zwei Minifenster, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, in der Ecke ein Plumpsklo. Der Raum gerade so groß, dass man darin herumtigern kann.

Die Wände sind mit Sprüchen und Bildern bekritzelt. Da steht zum Beispiel auf Deutsch: Ein Fehler ist im Schöpfungsplan, dass man im Schlaf nicht trinken kann.

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Wie ich versuchte Estnisch zu lernen

Mina, sina, tema, sagt Britt, meine Lehrerin und bewegt dazu ihre Hände: zu sich, von sich weg, zur Seite. Es ist die Eselsbrücke, die mir ich, du, er/sie/es leichter machen soll. Es funktioniert. Aber eigentlich verwenden alle nur die Abkürzungen, ma, sa, ta.

Meie, teie, nemand, wir, ihr, sie, geht es weiter. Schreibt man Teie groß, heißt es Sie – auch im Estnischen gibt es diese formelle Anrede.

Meie Tartu, habe ich kürzlich auf einem Plakat des Stadtmuseums gelesen. Wir Tartu? In dem Fall bedeutet es unser, sagt Britt.

Seit ich in Tartu bin, versuche ich etwas von der Sprache zu lernen. Weil ich es spannend finde, weil ich ein bisschen verstehen möchte was die Leute reden, weil Sprache Teil der Kultur ist. Die meisten rechnen dir das hoch an, wenn du versucht Estnisch zu sprechen, sagt Britt.

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Kultur ist wie Klebstoff

Vor ein paar Tagen hatte ich die Gelegenheit mit Bürgermeister Urmas Klaas zu sprechen. Er empfing mich im Rathaus, in seinem Büro im ersten Stock. An der Wand hängt ein Luftbild der Stadt, am Regal prangen die Sterne der Europafahne, hinterm Schreibtisch: Ein graublauer Sitzsack mit Klaas‘ Vornamen drauf. Normalerweise kann Tartus Bürgermeister von hier aus die Menschen über den Rathausplatz spazieren sehen, gerade ist der Blick von einer riesigen Bühne versperrt. Kulturhauptstadtfeierlichkeiten.

Herr Klaas, Deutschland und Estland haben eine lange gemeinsame Geschichte. Das Rathaus, in dem wir sitzen, wurde von einem Rostocker Architekten entworfen, bis 1917 waren viele Bürgermeister Deutschbalten. Wir führen das Interview auf Deutsch, was ist Ihre persönliche Verbindung zu Deutschland?

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Das Archiv

Volkszählung? Es gab damals eine Volkszählung? Meine Augen werden groß und größer. Volkszählung, das heißt amtlich erhobene Daten, statistisch ausgewertet und aufbereitet. Zumindest denke ich das. Ich will wissen, wie die Bevölkerung in und um Tartu beziehungsweise Dorpat im 19. Jahrhundert aussah, so rein zahlenmäßig.

In Dorpat gab es kaum Deutschbalten, hatte mir ein paar Wochen zuvor jemand erzählt, die Zahl fünf Prozent in den Raum gestellt. Aber dann lese ich ständig und überall von deutschbaltischen Wissenschaftlern, Schriftstellern, Politikern, Baumeistern. Karl Ernst von Baer (der „Alexander von Humboldt des Nordens“), Johann Heinrich Bartholomäus Walther (Dorpater Stadtbaumeister, entwarf u.a. das Rathaus), Georg von Oettingen (Bürgermeister 1878-1891), Carl Schirren (Historiker, an der Uni als Professor tätig). Die Liste ließe sich ewig fortsetzen – mit Männern, Frauen finde ich in den Geschichtsbüchern so gut wie nie.

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Die Zwiebelstraße

Wer dem Kulturforum auf Social Media folgt, hat es schon gesehen: Vergangene Woche war ein Filmteam aus Potsdam in Tartu. In der Hauptrolle: die Stadt – und ich. Eine ziemlich ungewohnte Situation. Ich habe vor vielen Jahren mal als Komparsin bei TV-Produktionen mitgespielt, allerdings geschminkt und verkleidet, ohne Text und nur im Hintergrund. Nun also groß und in Farbe, moderieren, Interview geben, Interviews führen, Protagonistinnen treffen – es sollte ja ein echter Einblick in die Arbeit als Stadtschreiberin sein. Ich bin schon gespannt auf das Ergebnis, fertig soll der Film im Herbst sein.

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Johanni, Jaanipäev oder einfach Jaani

„Jestern war Johanni. Sie wissen ja, daß bei uns in Eestland Johanni ein großes Pidu ist, das größte vom ganzen Sommer. Unsere Perenaine kam mit ihrer Schwester, um mit uns zu feiern. Am Telephon sagte sie, wir wollten ordentlich schwuchten; aber wie soll man das, ohne das kleinste bißchen zum Anbieten? In unserer Schafferei steht kein Bierchen, kein Allasch, nicht mal Kwas. Meine Frau backte schnell ein paar Kohlpiroggen, – Speck haben wir ja nicht, – aber weil sie zwischendurch immer ihren dämlichen Dante las, verbrannten die Piroggen von unten. Strunt auch! Wir kratzten sie tüchtig ab und legten sie auf Erdbeerblätter. Ich kann Ihnen sagen: wunderhübsch!

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Sie singen

Wie eine bunt schillernde Schlange windet sich der Umzug durch die Straßen. Vom Rathausplatz bis zur Sängerbühne schlängelt er sich, linksrum, rechtsrum, den Berg rauf. Tausende Menschen mit Blumenkränzen im Haar, Fähnchen in den Händen, gemusterten Kleidern. Ketten aus Metall, Schuhe aus Leder, so, wie es früher getragen wurde. „Es lebe hoch der Chor aus Elva“, ruft ein Zuschauer, „Hurra!“, jubelt der Chor zurück. „Es lebe hoch das Treffner-Gymnasium“ – „Hurra“, antworten die Sänger:innen.

Ein großes Gewinke und Fahnen Gewackel.

Dann stellen sie sich auf der Bühne auf: 9.914 Sänger:innen, darunter 3.000 Kinder, das Orchester des Vanemuine-Theaters. Als das erste Lied beginnt – es ist immer „Koit“ von Mihkel Lüdig und Friedrich Kuhlbars -, stehen die 15.000 Menschen auf den Rängen auf, beim Laulupidu, dem Liederfest.

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Annelinn

„Hier hat er gewohnt, der berühmteste Eismann von Annelinn“, sagt Jordi, und zeigt auf das Haus auf der anderen Straßenseite. Ein sanierter Plattenbau, fünf Stockwerke, die Balkone zur Straße. Nach Eismann sieht es hier ganz und gar nicht aus. „3, 2, 1“, zählt Jordi runter, dann rufen wir: „Eiscreme!“. Ganz oben öffnet sich die Glasverkleidung, die den Balkon zum Wintergarten macht, eine Frau schaut runter, in der Hand: ein in rosa Plastik verpacktes Eis! Sie lässt es fallen, Jordi fängt, also fast.

War das Zufall? Die Geschichte vom Eismann ist wahr, der Rest – ist Teil von „Läbi Linna – Through the City“, ein als Stadtführung getarntes Theaterstück. Aufgeführt zwischen den Plattenbauten von Annelinn, von Schauspieler:innen, Bewohner:innen – und uns. Ich bin Teil der Gruppe, die Jordi durch Annelinn folgt.

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Barfuß durchs Gras

Von der Sonne verbrannt, von Mücken zerstochen und um 23 Uhr hellwach. Es ist Sommer in Estland!

Das mit dem Sonnenbrand sollte man nicht nachmachen, ich denke da immer an den Essay von Mary Schmich „Advice, like youth, probably just wasted on the young“, geschrieben 1997. Besser bekannt als vertonte Version, auf Deutsch von Dieter Brandecker eingesprochen. Der Titel: Sonnencreme.

Irgendwie dachte ich: Ach wird schon nicht nicht so doll, das mit der Sonne. Dabei hatte man mir gesagt, dass die Sommer hier kürzer, aber dafür intensiver seien. Schulen und die Uni jedenfalls machen von Juni bis August Sommerpause. Und wer hat, der fährt ins Sommerhaus. Hauptsache draußen.

Eine unvollständige Liste meiner bisherigen Draußenhighlights:

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Kastani 1

Blätter rascheln, Vögel zetern, Autos rauschen vorbei. Ich sitze auf der Bank vorm Hauseingang, die Sonne knallt, dabei ist es noch nicht mal Zehn. Ein Mann rollt auf Inline Skates vorbei, eine Frau mit Kinderwagen, der Holzzaun, der mich von ihnen trennt: mehr Grau als Rosa.

Samstagmorgen, mein zweiter Kaffee.

Deutsches Kulturinstitut Tartu Saksa Kultuuri Instituut steht in einem Bogen über der Eingangstür. Ich drücke die Tür auf. Ein Quietschen schallt durchs Haus.

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