Ein Abschied

Dicht und dick hängt der Nebel morgens in den Straßen, macht die Welt klein, hüllt sie ein, wie ich mich in meine Decke. Draußen klappen die Tartuerinnen ihre Kragen nach oben, immer öfter sehe ich jetzt Handschuhe, Mützen, dicke Jacken, rieche die schwere Luft, wenn in den Häusern die Kamine befeuert werden. Es ist Herbst geworden.

Jeden Tag steht die Sonne ein bisschen tiefer, verfärben sich die Blätter rot und gelb und braun. Die Nächte? Längst wieder pechschwarz. Mehr als fünf Monate sind vergangen, seit ich in Tartu aus dem Zug gestiegen bin.

Zeit, zurückzublicken. Zeit, Abschied zu nehmen.

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Wie plant man ein Kulturhauptstadtjahr, Kati Torp?

Knapp drei Jahre bevor das Kulturhauptstadtjahr tatsächlich begann, steckte Kati Torp schon mittendrin. Plante, sprach mit Künstlerinnen, feilte am Programm. Kati Torp ist die künstlerische Leiterin der Kulturhauptstadt. Sie hat Kunstgeschichte studiert, am Kunstmuseum KUMU in Tallinn als Kuratorin für zeitgenössische Kunst gearbeitet, 2017 den estnischen Pavillon für die Biennale in Venedig kuratiert.

Für das Gespräch treffe ich sie am Rathausplatz in einem Altbau, unten rosa, oben weiß gestrichen, „Tartu 2024“ ist auf die Wand gepinselt. Die Organisationszentrale der Kulturhauptstadt liegt im ersten Stock, der Meetingraum ist mit Aufstellern und Postern voll, pink und türkis, die Farben des Jahres. Man blickt von hier auf den Brunnen mit den küssenden Studenten, den Rathausplatz, die ganz großen Events.

Ist es anstrengend, ein Jahr Kulturhauptstadt zu organisieren?

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Stadtschreiberin trifft Stadtschreiberin

Was macht eigentlich eine Stadtschreiberin? Ich schaue Maarja Pärtna an. Normalerweise muss ich diese Frage beantworten, endlich kann ich sie mal stellen. Meine Antwort reicht von Menschen treffen und Tartu entdecken über ein Erzählcafé veranstalten bis hin zu: meine Erlebnisse auf dem Blog dokumentieren. Ich bin immer auf der Suche nach Geschichten. Und Maarja?

Sie überlegt nicht lang. Tartu ist Stadt der Literatur, erzählt sie, Teil eines weltweiten Netzwerks kreativer Städte, ein Unesco-Projekt. Heidelberg gehört dazu, und Bremen, Vilnius und Odessa, Barcelona, Bagdad und Beirut. Gerade sei eine Autorin aus Reykjavik da, sagt Maarja, die sich um die Gast-Autorinnen kümmert, das Literaturfestival mitorganisiert und auch sonst alle Netzwerk-Veranstaltungen in Tartu in diesem Jahr koordiniert.

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Kultur ist wie Klebstoff

Vor ein paar Tagen hatte ich die Gelegenheit mit Bürgermeister Urmas Klaas zu sprechen. Er empfing mich im Rathaus, in seinem Büro im ersten Stock. An der Wand hängt ein Luftbild der Stadt, am Regal prangen die Sterne der Europafahne, hinterm Schreibtisch: Ein graublauer Sitzsack mit Klaas‘ Vornamen drauf. Normalerweise kann Tartus Bürgermeister von hier aus die Menschen über den Rathausplatz spazieren sehen, gerade ist der Blick von einer riesigen Bühne versperrt. Kulturhauptstadtfeierlichkeiten.

Herr Klaas, Deutschland und Estland haben eine lange gemeinsame Geschichte. Das Rathaus, in dem wir sitzen, wurde von einem Rostocker Architekten entworfen, bis 1917 waren viele Bürgermeister Deutschbalten. Wir führen das Interview auf Deutsch, was ist Ihre persönliche Verbindung zu Deutschland?

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Annelinn

„Hier hat er gewohnt, der berühmteste Eismann von Annelinn“, sagt Jordi, und zeigt auf das Haus auf der anderen Straßenseite. Ein sanierter Plattenbau, fünf Stockwerke, die Balkone zur Straße. Nach Eismann sieht es hier ganz und gar nicht aus. „3, 2, 1“, zählt Jordi runter, dann rufen wir: „Eiscreme!“. Ganz oben öffnet sich die Glasverkleidung, die den Balkon zum Wintergarten macht, eine Frau schaut runter, in der Hand: ein in rosa Plastik verpacktes Eis! Sie lässt es fallen, Jordi fängt, also fast.

War das Zufall? Die Geschichte vom Eismann ist wahr, der Rest – ist Teil von „Läbi Linna – Through the City“, ein als Stadtführung getarntes Theaterstück. Aufgeführt zwischen den Plattenbauten von Annelinn, von Schauspieler:innen, Bewohner:innen – und uns. Ich bin Teil der Gruppe, die Jordi durch Annelinn folgt.

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Da bin ich

Sie rascheln, triefen, ich höre, wie sie durch die Luft rauschen. Dann klatschen sie auf meinen Rücken. Birkenzweige, warm und feucht und weich. Der Saunameister gießt Wasser auf die Steine, es verdampft zischend.

Einatmen, ausatmen.

Wann kommt man an? Wenn man aus dem Zug steigt? Den Schlüssel im Schloss dreht? Den ersten Kaffee trinkt? Ist es das erste Gespräch, das erste Lächeln, der erste Kuss? Wenn der Kopf frei ist. Zwei Wochen bin ich jetzt in Tartu. Gedanklich steckte ich woanders. In Texten, die in Island und München spielen, geschrieben werden sollten, fertiggeschrieben.

Ein Schweißtropfen läuft mir übers Gesicht. In der Sauna riecht es nach Kräutern. Mit einem Rauschen klatschen die Birkenzweige erneut auf meinen Rücken. Der Saunameister summt eine Melodie, ansonsten ist es still. Das Gefühl für Zeit habe ich verloren.

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